Vielleicht liegt es daran, dass die Tage hier derzeit aus etwa zwei Stunden hell, zehn Stunden Dämmerung und zwölf Stunden Dunkel bestehen. Vielleicht auch nur daran, dass uns in letzter Zeit die richtigen Fragen gestellt wurden (oder die richtigen Gedanken kamen, wer weiß das schon). Bestimmt ist eine Talsohle erreicht. Obwohl wir sehr schöne Herbstferien hatten.
Da gehe ich durch die Straßen und bemerke auf einmal wieder, dass alle anderem eine fremde Sprache sprechen. Anders aussehen. Als hätte ich es vorher nicht mehr wahrgenommen. Oder ich gehe nach längerer Zeit in einen Laden, in dem ich anfangs immer freudig und neugierig einkaufen war – und merke, dass mich dort auch nichts mehr vom Hocker reißt. Alltag.
Ob die Euphorie des Anfangs vielleicht auch nur die Erleichterung darüber war, dass das Schlimme, Befürchtete längst nicht so nah an einen heran rückte wie angenommen? Dass es sich hier ganz normal leben lässt?
Lässt es sich nach wie vor. Aber die Schutzschicht wird manchmal durchlässig.
Auf dem Compound sind eine ganze Reihe guter Fahrräder geklaut worden. Unter anderem Julians schönes Rennrad. Eine Wasserlieferfirma ist in Verdacht geraten, weil sie an bestimmten Tagen zur fraglichen Zeit immer auf dem Gelände war – mit großem Laster. Bei einer Kontrolle fanden die Wachleute keine Räder, aber einen dicken Bolzenschneider im Laderaum. Mit dem der Fahrer angeblich irgendwelche Seile zur Befestigung der Wasserkanister lösen muss. Die Fahrräder sind sicher längst über die nächste Grenze verschafft.
Ein Geburtstagspäckchen mit völlig profanen Dingen wie Tee, Poster-Strips und Büchern war an der Seite aufgemacht worden. Jemand hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, es wieder anständig zuzukleben.
Wo habe ich diesen Satz gelesen?: Bei uns konnte das Recht des Stärkeren überwunden werden – hier nicht. Macht auszuüben und anderen die eigene Macht spüren zu lassen, das ist hier Lebens- Überlebensprinzip. Ich denke zurück an die Szenen im russischen Konsulat in Deutschland. An den Verkehr hier.
Vor einigen Wochen machten selbst ernannte Bürgerwehren Hatz auf Ausländer. Und wurden dann vom Patriarchen der Kirche und Politikern in Schutz genommen.
Es kursieren Videos, in denen die so genannte “okupaj pedofilija” einen Schwulen quält. Gar nicht bestialisch, aber sadistisch. Sie loggen sich unter falschen Namen in Homosexuellen-Foren ein, verabreden sich mit den Männern und spielen Gericht.
Sogar die Kinder auf dem Schulhof der russischen Schule, den ich gerade gut einsehen kann, weil die Bäume mittlerweile ganz kahl sind, kloppen sich anders. Viel körperlicher und kompromissloser.
„Die Megastadt Moskau fasziniert durch ihre ungeheure Energie, ihr unermüdliches Tempo. Aber es ist eine Energie der Reibung, der Verdrängung, des Austricksens, nicht des offenen Austauschs, des Vorankommens und schon gar nicht der Produktivität.“ (Kerstin Holm in der FAZ)
So wahr.
Die Menschen schauen einem hier ganz selten in die Augen. Lächeln wenig. Es ist immer noch ein Relikt aus Zeiten, in denen Menschen das Recht des Stärkeren noch viel massiver in Anspruch genommen haben. Die Leute scheinen manchmal voreinander zurückzuweichen, als könnte überall das Unglück lauern. Nach wie vor ist dies eine Gesellschaft, in der das Misstrauen unglaublich tief verankert ist. Und dann wieder stehst Du am Straßenrand und kannst den Arm ausstrecken und Dir ein Auto ran winken. Da sitzt jemand drin, der in all diesem Wahnsinn auch noch die Zeit hat, Dich für ein paar hundert Rubel nach Hause zu fahren. Und Dir im Bestfall gute Musik vorspielt oder spannende Geschichten erzählt. Oder beides.
Unsere Njanja, Mitte 20 vielleicht, kommt aus Armenien. Sie ist Kinderpsychologin, das habe ich kürzlich erst erfahren – nicht von ihr. Ich hatte gedacht, sie sei Erzieherin. Sie lebt mit ihrer Mutter zusammen in einem Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung (Kommunalka) bei einer Familie. Sie zahlen 20.000 Rubel, ca. 500 Euro – für ein Zimmer! Aber es sei nett dort und sauber, erzählt die Mutter (die wiederum Njanja bei meiner Freundin D. ist).
Warum tut man sich an, hier zu leben? Warum tun wir uns das an? Ich habe schon einige Male von Leuten hier im Dorf gehört: “Russland tut mir nicht gut.”
Man muss gut auf sich aufpassen hier. Wir können uns schützen. Die Widerwärtigkeiten nicht so dicht an uns heranlassen. Können uns ein bisschen künstliche Wirklichkeit im Dorf erschaffen. Für Julian ist es eindeutig schwieriger, er bekommt solche Informationen aus erster Hand, muss sie überprüfen und abwägen, ob er davon berichtet. Aber würde man einen Menschen, der so ist wie dieses Land, an sich heran lassen? Vermutlich nicht. Oder nur mit allergrößter Vorsicht. Und doch erzählt dieser Mensch auch von einer Wirklichkeit. Und einer langen Geschichte. Wie die jemals verarbeitet werden will? Keine Ahnung.
Wir haben uns am Wochenende eine Datscha angeschaut. Auch so ein möglicher Schutz-Flucht-Punkt. So ein Angebot kommt nicht so schnell wieder. Wir müssen rechnen, ob wir es uns leisten können.
Ausstattung für den Moskau-Nahkampf.