Mir fiel es schwer, hier in letzter Zeit zu schreiben. Die Weltpolitik hat sich zum ersten Mal über uns gelegt, hat uns – ganz alltäglich – in Atem gehalten, weil Julian rund um die Uhr arbeiten musste. Hat mich in Konflikt mit dem Land hier gebracht, obwohl ich mich nie gefährdet fühlte. Aber ich lebe zum ersten Mal in einem autoritären Staat. Und mit den Ereignissen in Kiew und auf der Krim verändert sich das Bild dieses Landes, der Stadt, der Menschen. 

Andere können die politische Lage besser beschreiben als ich.

http://www.sueddeutsche.de/politik/krim-annexion-putins-neues-russland-1.1916400

www.newrepublic.com/article/117007/while-west-watches-crimea-putin-cleans-house-moscow

Für mich war es schon eine neue Erfahrung, dass – anders als in Deutschland – es nicht selbstverständlich ist, dass ich nur von Menschen meiner Generation umgeben bin, die meine Meinung in etwa teilen. Sowohl bei den Expats als auch bei Russen triffst Du auf Meinungsäußerungen, die Dich umhauen. und Dich überlegen lassen, ob eine Diskussion lohnt oder nicht. Ob Du in Deiner Meinung sicher genug bist. Oder ob man lieber die Klappe hält.

Rio sagte neulich zu mir: “Mama, ich bin gegen Russland. Aber sag es niemandem.”

Angekommen, also.   

Ich habe immer gedacht, ich könnte nie leben, wo es hässlich ist. image

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Es ist hässlich.

Aber was passiert mit dem Blick?

Schärft er sich? Verändert er sich? Wird verschwommen? Milde? Gnädig?

Im Groben erkennt er das Feine. Im Chaos eine Ordnung. In Abstoßendem ein Strahlen.

Weiter bin ich noch nicht gekommen in meinen Gedanken. Leider.

Aber etwas geschieht.

Wer kann es mir erklären?

Die Sache mit dem Konfekt

Wir haben eine Packung von den Ts bekommen. Und eine von G. Neulich brauchten wir für Familie S ein Mitbringsel und haben die genommen, die wir von O. bekommen haben. Kurz haben wir geschwitzt, weil Familie S auch O. ganz gut kennt; und was wäre gewesen, wenn O. auch bei Ss. aufgetaucht wäre und gesehen hätte, dass wir seine nun den Ss. geschenkt haben? Vielleicht hatte O. selbst sie geschenkt bekommen, vielleicht sogar von den Ss., was wiederum eine runde Sache wäre, denn dann hätte sich ein Kreis geschlossen und ein neuer könnte beginnen.

Wir haben auch zwei Packungen im Auto liegen, denn nichts ist schlimmer in Russland, als zu anderen Menschen zu kommen und nichts dabei zu haben. Hatten wir bei I., weil wir da noch nicht so lange hier lebten. Und deswegen habe ich mal zwei Packungen auf Vorrat gekauft und ins Auto gelegt. In was die sich wohl bei konstant Minus15 Grad Außentemperatur verwandeln? Im Frühling spätestens sollten wir nachschauen. 

Das Schlimme und Gute in Russland zugleich ist: Du musst immer was mitbringen. Du bringst eigentlich immer Konfekt mit. Also Schokolade. Das ist eigentlich schlimm, weil sie nie schmeckt. Aber gut, weil Du sie dann nicht essen musst. Gut, weil Du eigentlich nie eine kaufen musst. Denn Du verteilst immer die weiter, die irgendwann bei Dir angelandet ist. Schlimm, weil Du nie den Überblick verlieren darfst. Sonst wird’s ganz schlimm.

Dienstag ist immer Mädelstag. Mit zwei Freundinnen fahre ich in die Innenstadt. Und schaue, wo wir hier eigentlich leben. Es ist schon absurd genug, dass ich eine Njanja habe, und mir dann einen ganzen Vormittag im Einkaufszentrum zu geben – nicht um vergnügt shoppen zu gehen, sondern um das nötigste für einen Fünf-Personen-Haushalt zu erjagen. Am besten gleich für eine ganze Woche, damit dieses Vergnügen nicht noch einen weiteren Vormittag der Woche frisst. Allein den Supermarkt komplett abzulaufen, ohne noch Dinge in den Wagen zu pfeffern, dauert schon eine gute halbe Stunde. Wenn man dann noch die Regale scannt nach Kaufbarem, Gesundem, Wertvollem, ja sogar nach Dingen, die man wirklich braucht und sucht – ist man locker anderthalb Stunden unterwegs. Dazu kommt die Zeit an der Kasse. Mit den durchaus stoischen russischen Kassiererinnen. Eine russische Freundin streicht sich den Tag im Kalender rot an, wenn sie mal freundlich oder gar noch zuvorkommend an der Kasse bedient wird. Ganz so schlimm habe ich es bislang noch nicht erlebt, aber ich verstehe ja auch nicht alles, was die Damen sagen.
Neulich hatte ich jemanden vor mir, der nicht genug Geld dabei hatte. Genervt rief die Kassiererin die Vorkassiererin, die die Oberkassiererin informierte, dass die Kassiererchefin gebraucht würde zum Storno an Kasse 69. Ich, wie immer zu spät dran Silas kam schon aus der Schule, Essen war noch nicht gekocht, Clark musste abgeholt werden; und ungeduldig wie eine echte Russin bin ich auch – ich bot der Kassiererin an, dass ich dem Mann den einen Lolli, den er zurückgeben musste, kaufen würde. Sie schüttelte Immer nur verständnislos den Kopf. Außerdem hatten sich ja schon etwa fünf Frauen in Bewegung (oder so etwas ähnliches) gesetzt, um einen Storno-Schlüssel zu holen. Er kam dann auch nach sieben Minuten. 

Hatte ich nicht von unseren Mädelsausflügen schreiben wollen?

Es ist der zweite Höhepunkt der Woche – neben dem Russischunterricht am Mittwoch! Wir verlassen das deutsche Dorf in Richtung große Stadt. Und erleben immer was.

Zum Beispiel erfuhren wir neulich, dass die Ansagen in der Metro nicht wahllos von einem Mann und einer Frau gemacht werden, sondern dass das Ganze System hat: auf der Fahrt in die Stadt rein, spricht ein Mann vom Band zu den Fahrgästen. Er sagt die nächste Station an und bittet, für alte und behinderte Menschen den Platz freizugeben (was hier wirklich ohne Aufhebens IMMER gemacht wird, auch und generell für Frauen!). Und bei der Fahrt raus ertönt die Stimme einer Frau.
Warum?
Auf dem Hinweg ruft die Arbeit, also der Chef (= männliche Stimme). Auf dem Heimweg lockt die Frau (=weibliche Stimme). Wusste selbst der Moskau-Korrespondent einer großen deutschen Tageszeitung nicht ; )

Die Zeit…

…flutscht nur so. Die letzten Monate waren ziemlich voll.

Mit Laternelaufen…

Und mit einer Premiere: zum ersten Mal hat eine unserer Laternen gebrannt. Rio hatte sie extra für seinen kleinen Bruder gebastelt, sie war allerdings recht schmal ausgefallen, so war es bei einem kleinen Luftzug kein großes Wunder, dass sie Feuer fing. Aber es hat Clark sehr nachhaltig beeindruckt und zum Sprechen seiner ersten längeren Wortfolgen ermuntert: Laterne – brannt – weint.

Dem gewöhnlichen Vorweihnachtstrubel kann man hier ganz gut entkommen, denn Weihnachten wird hier erst im Januar gefeiert. Das hält viele Geschäfte nicht davon ab, fürchterliche Dekorationen aufzufahren, aber das Angebot an Lebkuchen und anderem Kram hält sich einigermaßen in Grenzen. Umso massiver treibt es zum Teil die Deutsche Community: Sie lässt echte deutsche Tanne kommen. Zum Binden der Adventskränze (die russische ist angeblich zu dickastig und pieksig…). Das findet drei volle Tage vor dem Weihnachtsbasar der Schule statt. Damit die Kränze dort verkauft werden können.
Freiwillige können sich zum Helfen treffen, es wird um Materialspenden gebeten. Als ich am letzten Tag zum Helfen kam, hieß es, man sei schon ziemlich abgegrast. Dabei bogen sich noch immer drei riesige Werktische unter Strohsternen, Kugeln jeglicher Couleur, Bastrollen, Perlchen, Lametta, getrockneten Obstscheiben undsoweiter. Die Helferinnen bekamen, wenn sie wollten, ihren Kranz zum Vorzugspreis – so zwischen 30 und 45 Euro. Schnäppchen. 

Nachdem ich einen gebunden hatte, konnte ich ihn nicht mehr hergeben – obwohl ich mir geschworen hatte, nie so einen Preis für einen popeligen Kranz zu zahlen.
(Und die Organisatorinnen, die zu meinem Kranz nur kurz “Disco” sagten, wussten wohl, dass er bei den Russen ohnehin nicht ankommen und der Ladenhüter bleiben würde…)

Ist er nicht schön?

Auf dem Basar dann waren noch ca. 100 Kränze und Gestecke zum Verkauf da. Sie lagen aufgereiht in einem kleinen, abgesperrten Separee. Die Schlange davor rief Erinnerungen an andere Zeiten wach – wie so oft hier…Die Käufer wurden einzeln (!) reingelassen, um genug Zeit und Platz zum Umschauen und Auswählen zu haben. Die vergangenen Jahre habe es wohl unschöne Szenen gegeben, hieß es. Ich denke über ein Business nach.

Über manche Dinge muss ich hier einfach noch den Kopf schütteln.

***

 Erster Schnee.

Erste Plätzchen.

Ich möchte noch kurz ein paar Dinge erklären: Wir sind hier nicht gefährdet, gesundheitlich oder seelisch. Falls bei meinem letzten, etwas nachdenklicheren Post dieser Eindruck entstanden sein könnte.

Und es geht uns auch keineswegs schlecht. Aber es gibt eben diese Momente. Und meine Freundin Susanne, die selbst lange als Expat gelebt hat, schrieb mir, dass solche Landungen im Gefühlskeller zum absolut normalen Verlauf des Expat-Lebens gehören. Daran hatte ich auch nicht gezweifelt. 

Mir selbst war beim Bloggen sogar etwas langweilig geworden, weil ich das Gefühl hatte, ich würde vor allem Begeisterung, Überraschung und Euphorie hier aus Moskau rüberbringen wollen – quasi als Kontrast zu allem, was ich und sicher auch viele andere befürchtet hatten. Dass es immer eine andere Seite, eine nachdenkliche, auch kritische Betrachtung des Lebens hier gab, hab ich vielleicht etwas außer Acht gelassen. Ich wollte niemanden damit beunruhigen.

Ein bisschen Vorher-Nachher.

Jetzt ist der Schnee da, und der Sommer scheint schon so weit weg. 

Als ich heute aus der Tür trat und die ersten Schritte durch leichten Schneefall lief, wehte mir vom deutschen Eck der Geruch von ollem Fett entgegen. Und ich fühlte mich ein bisschen wie im Skiurlaub. 

Ich glaube, das kann gut hier werden, im Winter.

Truebere Gedanken

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Vielleicht liegt es daran, dass die Tage hier derzeit aus etwa zwei Stunden hell, zehn Stunden Dämmerung und zwölf Stunden Dunkel bestehen. Vielleicht auch nur daran, dass uns in letzter Zeit die richtigen Fragen gestellt wurden (oder die richtigen Gedanken kamen, wer weiß das schon). Bestimmt ist eine Talsohle erreicht. Obwohl wir sehr schöne Herbstferien hatten.
Da gehe ich durch die Straßen und bemerke auf einmal wieder, dass alle anderem eine fremde Sprache sprechen. Anders aussehen. Als hätte ich es vorher nicht mehr wahrgenommen. Oder ich gehe nach längerer Zeit in einen Laden, in dem ich anfangs immer freudig und neugierig einkaufen war – und merke, dass mich dort auch nichts mehr vom Hocker reißt. Alltag.

Ob die Euphorie des Anfangs vielleicht auch nur die Erleichterung darüber war, dass das Schlimme, Befürchtete längst nicht so nah an einen heran rückte wie angenommen? Dass es sich hier ganz normal leben lässt?

Lässt es sich nach wie vor. Aber die Schutzschicht wird manchmal durchlässig.
Auf dem Compound sind eine ganze Reihe guter Fahrräder geklaut worden. Unter anderem Julians schönes Rennrad. Eine Wasserlieferfirma ist in Verdacht geraten, weil sie an bestimmten Tagen zur fraglichen Zeit immer auf dem Gelände war – mit großem Laster. Bei einer Kontrolle fanden die Wachleute keine Räder, aber einen dicken Bolzenschneider im Laderaum. Mit dem der Fahrer angeblich irgendwelche Seile zur Befestigung der Wasserkanister lösen muss. Die Fahrräder sind sicher längst über die nächste Grenze verschafft.

Ein Geburtstagspäckchen mit völlig profanen Dingen wie Tee, Poster-Strips und Büchern war an der Seite aufgemacht worden. Jemand hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, es wieder anständig zuzukleben.

Wo habe ich diesen Satz gelesen?: Bei uns konnte das Recht des Stärkeren überwunden werden – hier nicht. Macht auszuüben und anderen die eigene Macht spüren zu lassen, das ist hier Lebens- Überlebensprinzip. Ich denke zurück an die Szenen im russischen Konsulat in Deutschland. An den Verkehr hier.
Vor einigen Wochen machten selbst ernannte Bürgerwehren Hatz auf Ausländer. Und wurden dann vom Patriarchen der Kirche und Politikern in Schutz genommen.
Es kursieren Videos, in denen die so genannte “okupaj pedofilija” einen Schwulen quält. Gar nicht bestialisch, aber sadistisch. Sie loggen sich unter falschen Namen in Homosexuellen-Foren ein, verabreden sich mit den Männern und spielen Gericht.
Sogar die Kinder auf dem Schulhof der russischen Schule, den ich gerade gut einsehen kann, weil die Bäume mittlerweile ganz kahl sind, kloppen sich anders. Viel körperlicher und kompromissloser.

„Die Megastadt Moskau fasziniert durch ihre ungeheure Energie, ihr unermüdliches Tempo. Aber es ist eine Energie der Reibung, der Verdrängung, des Austricksens, nicht des offenen Austauschs, des Vorankommens und schon gar nicht der Produktivität.“ (Kerstin Holm in der FAZ)

So wahr. 

Die Menschen schauen einem hier ganz selten in die Augen. Lächeln wenig. Es ist immer noch ein Relikt aus Zeiten, in denen Menschen das Recht des Stärkeren noch viel massiver in Anspruch genommen haben. Die Leute scheinen manchmal voreinander zurückzuweichen, als könnte überall das Unglück lauern. Nach wie vor ist dies eine Gesellschaft, in der das Misstrauen unglaublich tief verankert ist. Und dann wieder stehst Du am Straßenrand und kannst den Arm ausstrecken und Dir ein Auto ran winken. Da sitzt jemand drin, der in all diesem Wahnsinn auch noch die Zeit hat, Dich für ein paar hundert Rubel nach Hause zu fahren. Und Dir im Bestfall gute Musik vorspielt oder spannende Geschichten erzählt. Oder beides. 

Unsere Njanja, Mitte 20 vielleicht, kommt aus Armenien. Sie ist Kinderpsychologin, das habe ich kürzlich erst erfahren – nicht von ihr. Ich hatte gedacht, sie sei Erzieherin. Sie lebt mit ihrer Mutter zusammen in einem Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung (Kommunalka) bei einer Familie. Sie zahlen 20.000 Rubel, ca. 500 Euro – für ein Zimmer! Aber es sei nett dort und sauber, erzählt die Mutter (die wiederum Njanja bei meiner Freundin D. ist). 

Warum tut man sich an, hier zu leben? Warum tun wir uns das an? Ich habe schon einige Male von Leuten hier im Dorf gehört: “Russland tut mir nicht gut.”

Man muss gut auf sich aufpassen hier. Wir können uns schützen. Die Widerwärtigkeiten nicht so dicht an uns heranlassen. Können uns ein bisschen künstliche Wirklichkeit im Dorf erschaffen. Für Julian ist es eindeutig schwieriger, er bekommt solche Informationen aus erster Hand, muss sie überprüfen und abwägen, ob er davon berichtet. Aber würde man einen Menschen, der so ist wie dieses Land, an sich heran lassen? Vermutlich nicht. Oder nur mit allergrößter Vorsicht. Und doch erzählt dieser Mensch auch von einer Wirklichkeit. Und einer langen Geschichte. Wie die jemals verarbeitet werden will? Keine Ahnung. 

Wir haben uns am Wochenende eine Datscha angeschaut. Auch so ein möglicher Schutz-Flucht-Punkt. So ein Angebot kommt nicht so schnell wieder. Wir müssen rechnen, ob wir es uns leisten können.image

Ausstattung für den Moskau-Nahkampf.